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Hitlers Volk Ein deutsches Tagebuch

DOKU-SERIE IN VIER FOLGEN À 50 MINUTEN Ab 22. April 2025 in der ARD Mediathek Am 5. Mai um 22:50 Uhr im Ersten (90 Minuten)

Inhalt

Im Mai 2025 jährt sich zum 80. Mal der Sieg über die Deutschen, die Hitlers Herrschaft über mehr als 12 Jahre zu großen Teilen mitgetragen haben. „Hitlers Volk – Ein deutsches Tagebuch“ erzählt von acht Menschen und ihren Familien. Sie dokumentierten, was sie tagtäglich erlebten, wie sie fühlten, was sie dachten. Sie schrieben aus der Unmittelbarkeit des Tages und der Situation der Zeit heraus. Die Tagebuchschreiberinnen und -schreiber kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, politischen Lagern und religiösen Zugehörigkeiten, sie leben verteilt über Deutschland. Sie sind Anhänger der Nazis, Gegner, Ausgestoßene und Opfer der „Volksgemeinschaft“. Einige der Tagebücher ziehen sich durch die gesamten zwölf Jahre der Diktatur, andere werden uns nur eine Zeitlang begleiten, dann verstummen sie. Die Radikalisierung der Gesellschaft zeichnet sich ein in die Tagebücher. Sie alle geben private Einblicke in die Zeit - und ihre Abgründe.

Die vierteiliege Serie für ARD History erzählt aus der Zeit heraus, verzichtet auf eine Wertung aus dem Heute oder auf Einordnungen durch Experten.

  • Bild: © Vincent Burmeister / astfilm productions

Der Graphic Novelist Vincent Burmeister „übersetzt“ die Tagebuch-Eintragungen in Szenen, gibt den Momenten des Erlebens eine emotionale Qualität. Es entstehen „Erinnerungsbilder“, die ein Ausdruck der Seelenlandschaften der Protagonistinnen und Protagonisten sind.

PROTAGONISTEN der Doku-Serie (BIldergalerie)

  • Bild: © Dr. Norbert Conrads / Familie Cohn (KI-coloriert)

Willy Cohn (geb. 1888), Historiker und Pädagoge, lebt in Breslau. Er versteht sich als deutscher Jude, ist stolzer Träger des Eisernen Kreuzes, fest verankert in der Breslauer Gesellschaft, SPD-Mitglied. 1933 überrollen Cohn die Ereignisse. Ihm wird das Beamtenverhältnis gekündigt. Verhaftungswellen, Selbstmorde, Morde – Cohn belastet die Situation der Breslauer Juden zunehmend. Viele von ihnen verlassen Deutschland. Auch die beiden Söhne und eine Tochter fliehen. Die eigene Ausreise nach Palästina wird erwogen – und wieder verworfen. Breslau ist Heimat, das Deutsche seine Sprache. Am 17. November 1941 bricht Cohns Tagebuch mitten im Satz ab. Vier Tage später wird er mit seiner Frau und den beiden kleinen Töchtern verhaftet, deportiert und am 28. November in Kaunas erschossen.

Willy Cohn hat seine Tagebücher 1941 kurz vor der Deportation aus Breslau per Post an einen Freund in Berlin schicken können, sie überstanden dort die Zerstörung des Hauses im Krieg. Die Originale sind heute im Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem verwahrt.

  • Bild: © Dr. Roland Flade (KI-coloriert)

Ortrun Koerber (geb. 1924, Schülerin) ist in Japan aufgewachsen. Sie liebt Chopins Klaviermusik und schreibt Gedichte in englischer Sprache. Anfang 1939 muss ihre Familie nach Deutschland zurückkehren – ein Kulturschock für die Koerbers, die freiheitlich denken und mit Menschen verschiedener Nationen befreundet sind. Der 14-jährigen Ortrun fällt es in Würzburg schwer, sich in der Schule anzupassen. Sie erlebt die deutsche Realität als eng: der Zwang, sich im BDM einzuordnen, NS-Parolen und Kriegspropaganda. Die Abende mit gleichgesinnten Bekannten, bei denen sie auch die verbotenen BBC-Nachrichten hören, halten ihre Hoffnung hoch, dass Deutschland den Krieg verliert. In den letzten Kriegsmonaten verliebt sich Ortrun in einen jungen Italiener, der in Deutschland als Kriegsgefangener Zwangsarbeit leistet. Nach dem Krieg beginnt Ortrun Koerber ein Musikstudium, das sie abbricht, um in den Verlag des Vaters einzusteigen, der eine englischsprachige Zeitschrift für Oberschüler herausgibt.



Der Journalist Roland Flade hat, nach Gesprächen mit der Zeitzeugin und Urheberin Ortrun Scheumann (geb. Koerber), Auszüge aus Koerbers Tagebüchern veröffentlicht. Die Originale unterliegen noch bis 2029 (zehn Jahre nach ihrem Tod) einer Sperrfrist des Archivs.

  • Bild: © Helmut Reitberger (KI-coloriert)

Franz Schall (geb. 1913). Der Sohn eines liberalen Gymnasiallehrers in Altenburg/Thüringen, ist 1933 auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Er ist Mitglied der Hitlerjugend, tritt als 18-Jähriger in die NSDAP ein und sieht Hitlers Reichskanzlerschaft als Beginn einer neuen Zeit für Deutschland – und für sich. Schall macht eine Tischlerlehre in Dresden. Er wird ideologisch „mitgerissen“: Pathos und Inszenierungen der NSDAP befeuern seine Begeisterung. Als sein Vater wegen Kontakten zur Opposition verhaftet wird, verstärkt sich die Entfremdung zum Vater. Ab 1935 studiert Schall in Jena, um künftig als Erzieher und Werklehrer dem NS-Staat zu dienen. Schall findet nach 1945 Anschluss an die Pfadfinder-Bewegung, wird ein angesehener Pädagoge und baut eine heute noch anerkannte Begegnungsstätte mit auf.



Franz Albrecht Schalls Tagebuch beginnt 1928 und endet mit Beginn seines Studiums 1935. Schalls Professor in Jena, Friedrich Sander, nahm die Aufzeichnungen an sich und ließ sie abschreiben. Die Abschrift gab Sander 1966 wieder an Schall zurück. Eine Edition und Aufbereitung des Tagebuchs hat der Historiker André Postert besorgt. Das originale Transkript aus den 1930er Jahren befindet sich im Bundesarchiv.

  • Bild: © Dr. Franziska Wein (KI-coloriert)

Matthias Mehs (geb. 1893; im Bild mit seiner Frau Helene und den Kindern) betreibt einen Gasthof in Wittlich/Eifel und ist bis 1933 ein engagierter Stadtverordneter der katholischen Zentrumspartei. Mehs wird zum aufmerksamen Beobachter der Politik und der Veränderungen in Wittlich. Er bleibt auf Distanz zu den Nazis. Vor allem die Brutalität der Novemberpogrome 1938 in Wittlich erschüttert ihn: „Lebt noch ein Gott, der so etwas zulässt?“ Er versucht, seine Kinder von den Einflüssen der Propaganda fernzuhalten. Aber die Sorge um Familie und Gastwirtschaft lässt auch ihn Kompromisse eingehen. Der 8. Mai 1945 ist für Matthias Mehs ein Tag der Befreiung. 1945 gründet er die Wittlicher CDU, wird ein Jahr später ehrenamtlicher Bürgermeister und 1949 Mitglied des 1. Deutschen Bundestages.



Die Tagebuch-Originale von Matthias Joseph Mehs werden vom Kreisarchiv Bernkastel-Wittlich verwahrt. Franziska Wein-Mehs (Enkelin) und Günter Wein haben seine Tagebücher herausgegeben. Mehs schrieb von 1929 bis 1946. Seine Aufzeichnungen enthalten sowohl Privates als auch Reflexionen zur Politik in Deutschland und zur Öffentlichkeit Wittlichs.

  • Bild: © Staatsarchiv Hamburg (KI-coloriert)

Luise Solmitz (geb. 1889, Hausfrau; im Bild mit ihrem Mann Friedrich und Tochter Gisela) Die ehemalige Lehrerin verehrt 1933 den neuen Reichskanzler Hitler glühend. Aber Luises Ehemann Friedrich gilt nun als Jude, obwohl er schon als Kind zum Christentum konvertierte. Die 14-jährige Tochter Gisela ist nach den Nürnberger Gesetzen (1935) „Mischling ersten Grades“. Schritt für Schritt nimmt die NS-Politik der etablierten Hamburger Familie Normalität und Zukunft. Das Tagebuch von Luise Solmitz ist zwischen 1933 und 1945 das Tagebuch einer Ausgrenzung.

Nach dem Krieg arbeitet sie wieder als Lehrerin und schreibt bis ins Jahr 1973 Tagebuch. Es dient inzwischen der Geschichtswissenschaft als wichtige Quelle.



Die Faszination ihrer Tagebücher besteht in der Zerrissenheit dieser gebildeten Frau, deren Ehe 1935 plötzlich als „Mischehe mit einem Juden“ deklariert wird, die Hitler nahezu fanatisch verehrt und lange in fast schizophrener Weise verkennt, welche Konsequenzen Hitlers Politik hat.

  • Bild: Reiner Oelwein (KI-coloriert)

Egon Oelwein (geb. 1902; im Bild mit seiner Frau Marta und den Kindern) ist studierter Landwirt und Führer im Reichsarbeitsdienst (RAD). Mit seiner Frau Marta zieht er nach Untergrombach in Baden. Die Familiengründung sieht er unter rasse- und siedlungspolitischen Vorzeichen: Geburt und Erziehung, große und kleine Fortschritte der beiden Söhne (1938 und 1940 geboren) werden im extra angelegten Familien-Buch dokumentiert. An der Überlegenheit der eigenen Rasse gibt es für ihn keinen Zweifel. Als Oelweins Karriere stockt, trifft er eine schwerwiegende Entscheidung: Er beginnt wenige Monate vor Kriegsende bei der Waffen-SS eine Rekrutenausbildung. Seine Spur verliert sich im März 1945.



Oelweins Sohn Reiner Oelwein hat gemeinsam mit zwei Historikern im Rahmen eines Forschungsprojekts die Tagebücher, das Familienbuch und die Korrespondenz der Eltern aufgearbeitet und 2021 herausgegeben. Die Originale liegen im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München.

  • Bild: Tagebucharchiv Emmendingen (KI-coloriert)

Inge Thiele (geb. 1914, Gärtnerin). Die junge Gärtnerin Inge Thiele aus Castrop-Rauxel im Ruhrgebiet kennt vom Leben vor allem Armut und Entbehrung. Als Zweitälteste von fünf Kindern unterstützt sie die Eltern finanziell, der Vater ist seit Jahren arbeitslos. Inge Thiele ist es leid, jede Mark umdrehen zu müssen. Hitlers Versprechen klingen für die junge Frau, je öfter sie sie hört, nach einem Programm, dem man trauen kann. Der Aufschwung wird, so hofft sie, ebenso kommen wie die große Liebe. Sie arbeitet fleißig, aber: ein Fahrrad, ein Kleid, die kleinen Wochenend-Vergnügungen brauchen immer wieder die Ersparnisse auf. Den Krieg blendet Inge Thiele weitgehend aus, die Sehnsucht nach Wohlstand und der Sicherheit einer Ehe erfüllt sie ganz. Inge Thiele arbeitet auch nach dem Krieg als Gärtnerin. Das Tagebuch finden die Töchter erst nach ihrem Tod und geben es ans Tagebucharchiv in Emmendingen ab. Auf Wunsch einer ihrer Töchter wurde der Name anonymisiert.

  • Bild: © Vincent Burmeister / astfilm productions

Helmut Fischer (geb. 1900), der Familienvater und Lehrer aus Bremen beginnt im August 1939 damit, ein Tagebuch zu führen. Kurz darauf wird er zur Wehrmacht eingezogen. Fischer ist kein Nazi – aber er begrüßt die ersten militärischen Erfolge und genießt die Annehmlichkeiten eines „Kriegstouristen“. Die Einnahme von Warschau und Paris lässt ihn hoffen, dass der Krieg schnell vorbei ist. Während des Ostfeldzuges hört er in Litauen immer wieder von Judenerschießungen der SS, von denen er in Briefen nach Hause berichtet. Als die militärische Lage aussichtsloser scheint, wird ihm bewusst, dass alles gegen die Deutschen zur Abrechnung kommen wird, vor allem das Vorgehen gegen die Juden. Helmut Fischer gerät nach Kriegsende für kurze Zeit in kanadische Kriegsgefangenschaft. Bald darauf arbeitet er wieder als Lehrer.



Die Kriegstagebücher von Helmut Fischer, der in Wirklichkeit anders hieß, wurden von der Familie zur Verfügung gestellt. Auf Wunsch einer Tochter Fischers wurde der Name anonymisiert.

Stab

BUCH und REGIE
Eva Röger Daniel Ast Jürgen Ast
GRAPHIC NOVEL
Vincent Burmeister
GRAPHIC NOVEL ASSISTENTEN
Linda Gagelmann SACK und ASCHE
DROHNENDREH
Matthias Pfister
SCHNITT/VISUAL EFFECTS
Daniel Ast
SPRECHER:INNEN
Marina Behnke Mala Emde Lisa-Marie Koroll Ulrich Matthes Natalie Piu Mukherjee Ulrich Noethen Till Raskopf Oskar Räuker Nele Rosetz David Vormweg Anette Weber-Diehl
MISCHUNG, SOUNDDESIGN
Theo Schulte
MITARBEIT
LWL-Medienzentrum für Westfalen, Joachim Castan, Peter Kolano
PRODUKTIONSLEITER
Dennis Münch (rbb)
REDAKTION
Jens Stubenrauch (rbb) Rolf Bergmann (rbb) Ilka aus der Mark (SWR) Gabriele Trost (SWR) Mark Willock (SWR) Michaela Herold (Radio Bremen) Andrea Besser-Seuß (MDR)
PRODUZENTEN
Daniel Ast Jürgen Ast

Die vierteilige Doku-Reihe (á 50 Minuten) stammt von Eva Röger, Daniel und Jürgen Ast und ist eine Produktion der astfilm productions im Auftrag von rbb/SWR (gemeinsam federführend), Radio Bremen und MDR für die ARD.

Statements der Macher

DIRECTORS NOTE

Jürgen Ast

Das authentische „Hier und Jetzt“ von Tagebüchern provoziert immer ein Nachdenken über heutige Entscheidungssituationen: „Wie hätte ich mich verhalten? Wie verhalte ich mich?“ Ausgrenzung, Populismus, Radikalisierung der Gesellschaft, sogar der Krieg sind auch heute wieder auf der Tagesordnung.

Die Dachböden – das Beiseite- und Abgestellte faszinierten mich. Als Kind mit Freunden in den Utensilien der Familien stöbern. Abgelegt unter Decken oder in Kartons fanden sich immer auch Briefmarken mit Hitler im Seitenprofil, Zeitschriften, in denen Jungen und Mädchen mit wehenden Hakenkreuzwimpeln uns froh zulachten, einmal kam auch eine kleine Hitler-Büste zum Vorschein. Eindringlich und fordernd schaute uns das verstaubte Gesicht an, fast beleidigt, dass man es hier versteckt hat…

An einem Sonntagnachmittag 1964 sah ich zufällig im Fernseher, Modell „Rembrandt“, Bildschirmgröße 18x24 Zentimeter, „Das Dritte Reich“*. Eine Bilder- und Tonflut, die einen eigenartigen Sog ausübte, abstoßend - und auch anziehend. Vielleicht war es auch das Verbotene, Hakenkreuze und Hitler, und die Menschen jubelten dem zu. Am nächsten Sonntag musste ich wieder anschalten, ich wollte die Fortsetzung nicht verpassen, ging ganz nah an das Fernsehbild heran, um alles gut zu sehen…

Zwei Jahre später sah ich, auch zufällig, eine ganz andere Sendung: „Die Ermittlung“**. Männer und Frauen lasen Texte über das Leben in Auschwitz. Ich hörte von einem SS-Mann, der einem kleinen Kind einen Apfel wegnahm und es danach gegen eine Wand schleuderte. Der kleine Schädel zerbarst, später aß der SS-Mann den Apfel des Kindes. Immer wieder höre ich das Geräusch - bis heute, kracht der Schädel gegen die Wand…

Manchmal schrie mein Vater nachts. Der Krieg war zu ihm zurückgekehrt. Das Warten im Schützengraben, die Angriffe, das Daliegen, als er schwer verwundet wurde, allein im Schnee, ohne Hoffnung, dass ihm noch jemand hilft… Manchmal haben wir über den Krieg gesprochen. Auf meine Frage „Was habt ihr, was hast Du dort in Russland gewollt?“ hat er mich nur angesehen…

Ich weiß nicht genau, wann es begann, dass ich mir die Frage stellte: Wie hättest Du Dich damals verhalten? Die Antwort fiel nie eindeutig aus. Und immer hat mich verwundert, wie schnell und rigoros andere meinten, sie wären nie Täter geworden, unter keinen Umständen… Schon lange wollte ich eine Serie über das Leben im Dritten Reich realisieren. Nicht selten hörte ich den Satz „Was, schon wieder Hitler…“



*Das Dritte Reich/1960/61 – 14teilige ARD-Dokumentation (WDR, SDR), 1964 lief eine Wiederholung.

**Die Ermittlung/1966 – Aufzeichnung des Deutschen Fernsehfunks der Lesung des Stückes von Peter Weiss in der Akademie der Künste.



  • Bild: © Vincent Burmeister / astfilm productions

AUF DER SUCHE NACH DEN TAGEBÜCHERN

Eva Röger

In meinem Schrank liegt ein kleines Päckchen von alten Dokumenten und Notizen: der Nachlass meiner (angeheirateten) Tante, aus dem hervorgeht, dass sie ein von Deutschen adoptiertes polnisches Mädchen war. Kaum drei Jahre alt ist sie gewesen, als sich ihr Leben entscheidend änderte. Es gibt kein Tagebuch dieses Mädchens, und ich habe meine Tante nie davon erzählen hören. Die Umstände all dessen werden ein Rätsel bleiben. Aber die Faszination für Zeit-Dokumente, Erfahrungsberichte und später Archive gab es schon in meiner Kindheit, weshalb das Päckchen wohl auch in meinen Händen gelandet ist.

Unsere Recherche zu Tagebüchern der Jahre 1933-1945 war vielfältig, angefangen bei aktueller Forschungsliteratur, über Sachbücher und das Internet – wo man Tagebücher und Erfahrungsberichte finden kann, die im Selbstverlag durch Familienangehörige veröffentlicht wurden. Weitere Recherchen liefen beispielsweise über Stadtarchive und Gedenkorte in Deutschland (z. B. Gedenkstätte KZ Osthofen, Topographie des Terrors/Berlin) oder das Leo Baeck Institute New York.

Dabei griffen wir auch auf „lose Fäden“ zurück, die wir aus dem ARD-Projekt „Hitler – Die ersten 100 Tage“ liegen gelassen hatten. Vor allem das Tagebucharchiv Emmendingen und die Akademie der Künste Berlin (Sammlung Kempowski) kannten wir als wichtige Quelle. Sehr viele Nachlässe liegen hier – nur selten aus der deutschen Sütterlin- oder Kurrentschrift transkribiert und noch seltener durch biographisches Begleitmaterial entschlüsselbar. Oftmals ist kaum mehr als der Name und das Geburtsjahr, vielleicht noch die Stadt, in der die Person verstorben ist, vermerkt.

Vermutlich fast einhundert Ego-Dokumente unterschiedlichster Form und Ausmaße gingen durch unsere Hände. Manche eindrücklich bis kaum ertragbar, andere banal oder kaum entzifferbar – alles war dabei, auch viele nur sporadisch geführte Tagebücher mit großen zeitlichen Lücken.

Acht ProtagonistInnen wurden schließlich ausgewählt und miteinander verwoben: aufgrund der Unterschiedlichkeit ihres Alters, ihrer Ansichten und Erfahrungen. Acht Schicksale aus Deutschland – festgehalten in Tagebüchern.



DIE UMSETZUNG: GRAPHIC NOVEL

Interview mit Vincent Burmeister, Graphic Novelist



Wie fühlst Du Dich in den jeweiligen Charakter ein?

Es geschieht direkt und fast unbewusst über die ersten Fotos, die ich zu sehen bekomme. Wenn ich dazu einige Tagebuchpassagen gelesen habe, entsteht für mich schnell ein recht plastisches Bild der Figur. Ist da ein Mensch mit Humor oder voll jugendlichem Tatendrang, naturverbunden oder unnahbar? Tagebücher haben ja den Vorteil, dass sie einen tiefen Einblick in das Erleben und die Eigenheiten eines Menschen geben. Weitere Erkenntnisse oder Details ergeben sich dann oft über die Recherche, beispielsweise zu den Wohnungen der Charaktere. Da überlege ich dann, aha, der ist ein Büchermensch und habe dann auch gleich mehrere Personen aus meinem Leben vorm inneren Auge, die für bestimmte Eigenheiten Pate stehen können.

Welcher der Charaktere stellte für Dich in der Annäherung ein besonderes Problem dar? Und warum?

Die größte Distanz habe ich sicher zu Egon Oelwein gespürt. Nicht nur weil er so ein glühender Nazi war, einige der handelnden Personen aus Hitlers Volk stehen ja der Ideologie nah, sind begeistert von Hitler, Teil des Systems. Oelwein versperrt quasi auch alle anderen Zufahrtswege, mit denen ich ihm näherkommen könnte. Als seine Frau ihm zum Beispiel schreibt, dass sie wieder schwanger ist, notiert er darauf, dass er sich aus Anschauung und Sippengefühl freut, nicht so sehr aus der Freude an Kindern überhaupt. Wie kann man einem solchen Mensch „näherkommen“? Das ist nicht ganz leicht.

Die Animation der Graphic Novel erweckt die Figuren wieder zum Leben; sie bewegen sich, handeln, laufen, zeigen Gefühle… Wie komplex sind die „technischen“ Vorgänge?

Sehr komplex. Ein Zusammenspiel von fast einem Dutzend verschiedener Programme und Mitarbeiter. Motion Capture, Zeichnungen, Kleidungssimulation, Compositing, 3D-Modelle, die Liste ließe sich beliebig weiter fortsetzen. Jedenfalls können die Zuschauer davon ausgehen, dass in jeder einzelnen Sekunde sehr viel Zeit, Überlegung und Aufwand steckt.

Wie wichtig sind für Dich Detailfragen? Z. B. mit welcher Kuchengabel aß man damals, welche Kleidung trug man?

Detailfragen sind für mich extrem wichtig. Recherche hat für mich schon immer einen immens hohen Stellenwert gehabt, und bei der Arbeit an historischen Stoffen ist mein Anspruch nochmal höher. Dieser Aufwand zahlt sich meiner Meinung nach mehrfach aus. Einmal sollte das Gezeigte natürlich stimmig sein. Aber es erleichtert mir auch, in die Stimmung zu kommen.

Was sind die Vorteile von Graphic Novel bei der Annäherung an die Geschichte von historischen Personen?

Den größten Vorteil von Graphic Novel sehe ich in ihrer Fähigkeit, eine große Nähe zu den Figuren aufzubauen und durch die Abstraktion gleichzeitig Distanz zu wahren. Die Graphic Novel gibt nicht vor, Wirklichkeit 1:1 abzubilden. Damit schafft sie es leichter, einen Zugang zur Gefühlswelt der ProtagonistInnen und hoffentlich auch der Zuschauer:innen zu finden. Ein weiterer Vorteil: Es gibt kaum Einschränkungen, was Szenerien, Dekor, Effekte und ähnliches angeht. Im Gegensatz zu beispielsweise Reenactments kann wirklich aus dem Vollen geschöpft werden.



Impressum & Pressekontakt

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Redaktion
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Texte
astfilm productions / rbb / SWR
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